R. Furter u.a. (Hrsg.): Des manufactures aux fabriques

Cover
Titel
Des manufactures aux fabriques – Von der Manufaktur zur Fabrik. Les transformations industrielles, XVIIIe–XXe siècles – Industrieller Wandel, 18.–20. Jahrhundert


Herausgeber
Furter, Reto; Anne-Lise, Head-König; Luigi, Lorenzetti
Reihe
Histoire des Alpes – Storia delle Alpi – Geschichte der Alpen 20
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Franz Mathis

Der 20. Band der länderübergreifenden Zeitschrift zur Geschichte der Alpen enthält mehr, als der Titel vermuten lässt. Neben einem Nachruf auf den viel zu früh verstorbenen Innsbrucker Mediävisten Klaus Brandstätter, Vorstandsmitglied der Internationalen Gesellschaft für historische Alpenforschung, und einem Rückblick auf die ersten zwanzig Jahre der Zeitschrift aus der Feder ihres Präsidenten, Luca Mocarelli, finden sich darin nicht nur vier Aufsätze zur frühen Industrialisierung, sondern darüber hinaus auch fünf Beiträge zur ländlichen Entwicklung des alpinen Raumes zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert. Aus den einen wie den anderen wird klar, dass sich wirtschaftliche Entwicklung weit mehr aus lokalen und regionalen Bedingungen als aus der jeweiligen politisch-nationalen Zugehörigkeit eines Gebietes erklären lässt.

So verweist Anne-Lise Head-König auf die grossen Unterschiede, die in der Industrialisierung der alpinen und der voralpinen Kantone der Schweiz zu beobachten sind. Grund für diese Diskrepanzen waren die jeweilige Ausstattung mit Rohstoffen und Arbeitskräften, die internationale Konkurrenz samt Nachfrageschwankungen oder die unterschiedliche gewerbliche Tradition. Dies führte dazu, dass um 1901 etwa in Glarus rund 23 % aller Erwerbstätigen Fabrikarbeiter waren, im Wallis dagegen nur knapp 1 %. Auch in den französischen Alpen lässt sich gemäss Pierre Judet trotz mancher Gemeinsamkeiten kein klares Industrialisierungsmuster erkennen. Stattdessen ist als Folge unterschiedlicher Antworten auf die entstehenden Chancen und Herausforderungen eine grosse Vielfalt auszumachen, wobei insgesamt – wie in anderen alpinen Regionen – der Stromerzeugung aus Wasserkraft eine grosse Bedeutung zukam. Dass es – wie Hrvoje Ratkajec für den slowenischen Alpenraum zeigen konnte – nach dem Niedergang des protoindustriellen Bergbaus einschliesslich Metallerzeugung und -verarbeitung in manchen Regionen zu einer Reagrarisierung, in anderen dagegen zur Entstehung neuer Industriezweige wie etwa der Textilindustrie kam, war ein auch anderswo, und zwar innerhalb wie ausserhalb der Alpen zu beobachtendes Phänomen. Gross war auch die Vielfalt der Firmen, was ihre Organisationsform und Grösse, und der Unternehmer, was ihre regionale und soziale Herkunft anlangt, wobei den Städten und grösseren Siedlungen nicht nur in den von Luigi Trezzi untersuchten italienischen Alpen eine besondere Bedeutung zukam.

Auch die ländliche Wirtschaft der Vormoderne gestaltete sich trotz vieler Berührungspunkte überaus vielfältig. Dies gilt etwa für die Rolle der Gemeinden, die Umwandlung der Eigentumsrechte oder die Einschränkung von Gemeingütern, die neben anderem von Andrea Bonoldi und Alessio Fornasin in einer vergleichenden Untersuchung von Friaul und Tirol analysiert werden. Gemeinsam war dagegen fast allen Regionen, dass für viele bäuerliche Familien eine nicht-landwirtschaftliche Erwerbstätigkeit – einschliesslich saisonaler Auswanderung – entweder aufgrund unzureichender Ausstattung mit nutzbarem Land zum Überleben notwendig war oder eine willkommene Aufbesserung ihres landwirtschaftlichen Einkommens darstellte. Diese weit verbreitete, ländliche Mischökonomie wird von Aleksander Panjek am Beispiel des alpinen Slowenien als integrierte Bauernwirtschaft, von Paolo Tedeschi hingegen in seiner Untersuchung der lombardischen Alpentäler als Pluriaktivität bezeichnet. Letzterer zeigt auch, wie zunehmend schwierig es im 19. Jahrhundert angesichts wachsender Konkurrenz von aussen wurde, die traditionellen Nebenerwerbsmöglichkeiten aufrecht zu erhalten. Dies führte in vielen Tälern zu dauerhafter Abwanderung, der in anderen Bergregionen mit der Entwicklung neuer, qualitativ hochwertiger und durchaus auch industrieller Nischenproduktionen begegnet werden konnte. Ebenfalls in der Lombardei fand im Zuge des Strukturwandels eine Spezialisierung auf ein bestimmtes landwirtschaftliches Produkt statt, wie etwa im Fall der von Claudio Besana und Andrea Maria Locatelli untersuchten Käseproduktion, die speziell von den in der Transhumanz erfahrenen Viehbauern aus der Gegend von Lecco, Bergamo und Brescia betrieben wurde und mit dem Gorgonzola aus der Valsassina überregionale Berühmtheit erlangte.

Die geschilderte Vielfalt derartiger regionaler Mikrostudien zum ländlichen Raum wird auch von Werner Drobesch in seinem Überblick über die jüngere Agrargeschichtsforschung in Österreich angesprochen. Sie überwiegen gegenüber nationalen Gesamtdarstellungen, die vielfach noch fehlen, jedoch angesichts der oben angesprochenen Teilstudien fällig erscheinen. Eine solche Studie könnte den Versuch unternehmen, in einer vergleichenden Gesamtschau die vielfältigen Strategien darzustellen, mit denen die Menschen in den Alpen auf die sich ergebenden Chancen und Herausforderungen reagierten. Möglicherweise ist jedoch die Zeit für ein solches Unternehmen noch nicht reif, da es dafür weiterer Regionalstudien von der Art der im vorliegenden Band enthaltenen Beiträge bedarf.

Zitierweise:
Franz Mathis: Rezension zu: Reto Furter, Anne-Lise Head-König, Luigi Lorenzetti (Hg.), Des manufactures aux fabriques – Von der Manufaktur zur Fabrik. Les transformations industrielles, XVIIIe–XXe siècles – Industrieller Wandel, 18.–20. Jahrhundert, Zürich: Chronos Verlag, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 108-110.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 108-110.

Weitere Informationen